RA Martin Haucke, RAe Dr. Hantke & Partner
Der für das Wohnungseigentumsrecht zuständige V. Zivilsenat hat am 07.05.2021 eine durchaus überraschende Entscheidung getroffen.
Was war passiert?
Ein Wohnungseigentümer hatte im Jahr 2017 eine Klage auf Beseitigung einer Hecke erhoben, die der Eigentümer des benachbarten Grundstücks direkt an die Grenze gepflanzt hatte, was nach dem Nachbarrecht in Baden-Württemberg nicht zulässig war. Der klagende Wohnungseigentümer machte also Ansprüche aus dem gemeinschaftlichen Eigentum geltend (nämlich eine Beeinträchtigung des Grundstücks der Wohnungseigentümer).
Wo liegt das Problem?
Das Amtsgericht gab der Klage des Wohnungseigentümers statt und die gegen das Urteil erhobene Berufung des Nachbarn wurde im Jahr 2019 zurückgewiesen. Es kam, wie es kam: Der Nachbar legte Revision gegen das Berufungsurteil ein und der BGH musste entscheiden. Zum 01.12.2020 gab es allerdings eine WEG-Reform, die sich auf diesen Rechtsstreit auswirkte. Denn seit dem 01.12.2020 übt die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer – also allein die WEG, und nicht mehr ein einzelner Eigentümer – die gemeinschaftsbezogenen Rechte aus. Es stellte sich also die Frage, ob der klagende Wohnungseigentümer seine Prozessführungsbefugnis noch weiter ausüben durfte oder ob die ihm bis 30.11.2020 zustehenden Rechte mit der WEG-Reform plötzlich verloren gegangen sind.
Wie entscheidet der BGH?
Der Bundesgerichtshof meint, dass das etwa 6 Monate in Kraft getretenen Gesetz zur Reform des Wohnungseigentumsrechts eine Regelungslücke enthalte. Der Gesetzgeber kann nach Auffassung des BGH nicht gewollt haben kann, dass laufende Verfahren durch die Gesetzesänderung nun plötzlich völlig nutzlos seien, oder sagen wir mal auf den Kopf gestellt würden. Daher meint der BGH man müsste die Übergangsvorschrift aus § 48 Abs. 5 WEG, die sich nach dem ausdrücklichen Gesetzwortlauf nur auf reine Verfahrensvorschriften bezieht, auch auf inhaltliche (materiell-rechtliche) Fragen anwenden.
Der Bundesgerichtshof lässt der Wohnungseigentümergemeinschaft – der ja eigentlich die Rechte nach der WEG-Reform allein zustehen – noch eine Hintertür offen: Wenn das Organ der WEG (meistens also der Verwalter) dem Gericht einen gegenstehenden Willen der Gemeinschaft schriftlich mitteilt, dann soll die Prozessführungsbefugnis des klagenden Wohnungseigentümers entfallen.
Anmerkung
Die Entscheidung ist „aus der Luft gegriffen“ und daher auch überraschend. Die Argumente des BGH sind zwar nachvollziehbar und m.E. durchaus auch vertretbar, es gibt jedoch keine (gesetzliche) Grundlage weshalb in solchen Altfällen die Prozessführungsbefugnis des klagenden Wohnungseigentümers nicht wegfallen sollte. Der Wortlaut des § 9a WEG ist eindeutig.
Pressemitteilung
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist noch nicht veröffentlicht, es gibt bisher lediglich eine entsprechende Pressemitteilung Nr. 93/2021, die wir wie folgt zitieren:
„Der V. Zivilsenat hat entschieden, dass für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers, der sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebende Rechte geltend macht, über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fortbesteht, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs (z.B. Verwalter) über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird.
Sachverhalt
Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke in Baden-Württemberg. Das eine Grundstück steht im Eigentum des Klägers und einer weiteren Person, die zusammen eine Wohnungseigentümergemeinschaft bilden. Ihr Grundstück grenzt in dem Bereich des Gartens, an welchem dem weiteren Wohnungseigentümer ein Sondernutzungsrecht zusteht, unmittelbar an das Grundstück der Beklagten an. 2011 pflanzten die Beklagten auf ihrem Grundstück entlang dieser Grenze vier Zypressen mit einem Grenzabstand von unter vier Metern. Der Kläger verlangt deren Beseitigung, hilfsweise den Rückschnitt auf eine Höhe von maximal 3,5 Metern.
Das Amtsgericht hat der Klage im Hauptantrag stattgegeben. Das Landgericht hat die Berufung der Beklagten im November 2019 zurückgewiesen. Mit der Revision möchten die Beklagten die Abweisung der Klage erreichen.
Rechtliche Problemstellung
Der Fall hatte die Frage aufgeworfen, ob der ursprünglich allein prozessführungsbefugte Kläger mit dem Inkrafttreten des neuen Wohnungseigentumsgesetzes am 1. Dezember 2020 seine Prozessführungsbefugnis verloren hat und die Klage aus diesem Grund als unzulässig abzuweisen wäre. Mit dem Verlangen nach Beseitigung der auf dem Nachbargrundstück angepflanzten Zypressen macht der Kläger Ansprüche aus dem gemeinschaftlichen Eigentum der Wohnungseigentümer geltend. Zu einer selbständigen gerichtlichen Geltendmachung solcher Ansprüche war er nach dem bisher geltenden Recht befugt, wenn – wie hier – die Wohnungseigentümergemeinschaft die Ausübung nicht an sich gezogen hatte. Nach dem seit dem 1. Dezember 2020 geltenden § 9a Abs. 2 WEG liegt die Ausübungsbefugnis für die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte dagegen allein bei der Wohnungseigentümergemeinschaft. Der einzelne Wohnungseigentümer ist nach dem neuen Recht nicht zur selbständigen gerichtlichen Geltendmachung solcher Ansprüche befugt.
Der Senat hatte zu entscheiden, welche Auswirkungen § 9a Abs. 2 WEG auf eine vor dem 1. Dezember 2020 erhobene Klage hat, insbesondere ob der Kläger mit Inkrafttreten dieser Vorschrift die ursprünglich bestehende Prozessführungsbefugnis verloren hat. Für diese Situation sieht das Wohnungseigentumsgesetz keine speziellen Überleitungsregelungen vor.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren besteht die Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fort, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs (z.B. Verwalter) über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird.
Die Übergangsvorschrift des § 48 Abs. 5 WEG enthält insoweit eine planwidrige Regelungslücke. Ein - zur Unzulässigkeit der Klage führender - Wegfall der Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers während des laufenden gerichtlichen Verfahrens hätte zur Folge, dass das Verfahren, selbst wenn es - wie im vorliegenden Fall - schon seit Jahren anhängig und über mehrere Instanzen geführt worden war, für beide Parteien gänzlich nutzlos gewesen wäre und im Ergebnis nur erheblichen Aufwand und Kosten verursacht hätte. Gegen die Annahme, dass dies dem Plan des Gesetzgebers entspricht und er dies bewusst hinnehmen wollte, spricht, dass die Gesetzesbegründung hierzu keine Erläuterung enthält, was bei einem Eingriff dieses Ausmaßes und der Vielzahl der betroffenen Verfahren zu erwarten wäre. Dies gilt umso mehr, als § 9a Abs. 2 WEG für Verfahren, in denen ein Wohnungseigentümer vor Inkrafttreten der Vorschrift Klage erhoben hat und das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, bei einem Wegfall der Prozessführungsbefugnis eine so genannte unechte Rückwirkung entfalten würde. Hätte der Gesetzgeber der Regelung für bereits anhängige Verfahren eine solche Wirkung beimessen wollen, hätte es nahegelegen, dass er die Gründe hierfür anhand des gesetzgeberischen Ziels erläutert und darstellt, warum dem Vertrauen des Wohnungseigentümers auf den Fortbestand seiner Prozessführungsbefugnis ein geringeres Gewicht zukommt.
Die Regelungslücke hätte der Gesetzgeber, hätte er sie erkannt, nach seinem Plan mit einer Regelung geschlossen, die sich an der Vorschrift des § 48 Abs. 5 WEG orientiert, zugleich aber auch den Rechtsgedanken des § 9a Abs. 2 WEG einbezieht, der die Durchsetzung der dort genannten Ansprüche der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zuordnet.
Der Übergangsregelung in § 48 Abs. 5 WEG liegt die Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, dass Änderungen des Verfahrensrechts bereits anhängige Verfahren unberührt lassen. Im Hinblick auf den (auch) verfahrensrechtlichen Charakter von § 9a Abs. 2 WEG ist daher anzunehmen, dass es dem Plan des Gesetzgebers entspricht, die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers in einem bei Gericht bereits anhängigen Verfahren nicht schon durch das bloße Inkrafttreten der Neuregelung entfallen zu lassen. Er hätte aber zugleich auch den Rechten der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer Rechnung getragen, der er in § 9a Abs. 2 WEG die alleinige Ausübungsbefugnis für die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte zugewiesen hat. Dementsprechend hätte er das Recht der Gemeinschaft, über die Fortführung des Verfahrens eigenverantwortlich zu entscheiden, unangetastet gelassen. Daraus folgt, dass die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer das bereits anhängige Verfahren selber als Partei übernehmen oder aber dem Wohnungseigentümer die Fortführung des Verfahrens untersagen kann, etwa weil sie den Konflikt auf andere Weise als durch einen gerichtlichen Rechtsstreit beilegen will.
Solange dem Gericht ein entgegenstehender Wille der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer aber nicht zur Kenntnis gebracht wird, besteht für ein bereits vor dem 1. Dezember 2020 anhängiges Verfahren die Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers fort. Dies rechtfertigt sich aus der Überlegung, dass die Geltendmachung und Durchsetzung von sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechten, insbesondere die Verfolgung von Ansprüchen wegen einer Beeinträchtigung des gemeinschaftlichen Eigentums typischerweise im Interesse der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer liegt.
Danach ist die Revision der Beklagten nicht erfolgreich. Der Kläger ist weiterhin prozessführungsbefugt, da ein entgegenstehender Wille der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer nicht belegt ist. Das Berufungsgericht hat auch zu Recht einen Anspruch des Klägers gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW auf Beseitigung der Zypressen bejaht.“